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Reiserouten von Briefen - Zur Mobilität der Briefe im Wenxuan
Die Anthologie chinesischer Kurzprosa und Poesie Wenxuan 文選 („Literarische Auswahl“, kompiliert um 530 n. Chr.) ist eine der wichtigsten Quellen für die chinesische Literatur vor der Zeit der Tang-Dynastie. Sie ist außerdem die früheste erhaltene Anthologie, die Texte des Genres shu 書 („Briefe“) enthält. Doch wie gelangten die 22 Brieftexte, die uns heute im Wenxuan überliefert sind, überhaupt in diese Anthologie? Gerade der Brief, der die räumliche und daraus resultierende zeitliche Trennung von Sender
und Empfänger voraussetzt, bietet sich für Überlegungen zur Mobilität von Literatur an. Beispielhaft möchte ich daher die Wege dreier Briefe von ihrer Entstehung bis hin zu ihrer Aufnahme in die Anthologie Wenxuan nachverfolgen. Yang Yuns „Brief an Sun Huizong“ (Han-Dynastie), Ying Qus „Brief an Man Gongyan“ (Wei-Dynastie) und Liu Juns „Erneuter Antwortbrief an Liu Zhao aus Moling“ (Liang-Dynastie) sollen dabei ein möglichst großenzeitlichen Rahmen abdecken. In der Analyse der Wege der Briefe orientiere ich mich an dem Konzept des Objektitinerars, das die Ethnologen Hans-Peter Hahn und Hadas Weiss vorgeschlagen haben, um die Mobilität von Objekten zu fassen (Hahn/Weiss (2013): Mobility, Meaning & Transformations of Things, S. 1–14). Diese Metapher soll hier auf Texte übertragen werden und so die Wege, Stationen und Übergänge der Briefe auf ihrer Reise durch die Jahrhunderte beleuchten. Der Schwerpunkt soll dabei auf den Themenfeldern der Textproduktion, Textüberlieferung und Anthologisierung von Texten liegen.